Die meisten Besucher haben nämlich, wenn sie den Bundestag erstmals besuchen, genau zwei Bilder über den politischen Betrieb im Kopf: Kleinkarierten, oft auch persönlichen Streit zwischen den Abgeordneten und das Bild des halbleeren Plenarsaals. Immer am Streiten, nie am Arbeiten. Dieses Bild trügt, aber ohne Erklärungen kann es leicht entstehen.
Schaltet man abends die Tagesschau ein, wird ein Plenartag – der gut und gerne über 12 Stunden dauern kann – auf zuschauerfreundliche 30 Sekunden eingedampft. Übrig bleibt nur das Spannendste: Der Streit. Stundenlange Harmonie ist wenig spektakulär, nicht nur für die Medien. Wenn sich alle in einem Punkt einig sind, ist der Nachrichtenwert gering. Wenn es Streit gibt, muss auch erklärt werden, worüber gestritten wird.
Der Eindruck, dass es im Bundestag dauernd Streit gäbe, entsteht so sehr leicht. Wahr ist aber auch: Dort wo alle Entscheidungen vorberaten werden, in den Fachausschüssen des Bundestages, werden 70-80 Prozent der Entscheidungen einstimmig gefällt. Alle, von der CSU bis zur Linkspartei, ziehen an einem Strang. Kein Streit. Aber auch: Keine Fernsehkamera.
Streit ist im Bundestag also die Ausnahme, Konsens die Regel. Nicht spannend, nicht im Fernsehen, aber die Basis eines kollegialen Miteinanders über alle Parteigrenzen hinweg. Auch das zweite Vorurteil geht auf die Fernsehberichterstattung zurück. Zappt man bei Phoenix vorbei oder sieht in den Nachrichten den Plenarsaal, ist der oft nur zu einem Drittel gefüllt. Da die Tätigkeit von Abgeordneten oft mit dem Satz „XY sitzt im Bundestag“ zusammengefasst wird, könnte man bei diesen Bildern meinen, dass die meisten Abgeordneten gerade Blau machen.
Auch hier ist die Realität komplizierter. Die beiden Plenartage in den Sitzungswochen – in der Regel Donnerstag und Freitag – beginnen jeweils um 9 Uhr morgens. Ohne Pause gibt es dann, besonders am Donnerstag, oft bis spät abends Debatten. Ab und zu sogar noch länger. Mal bis Mitternacht, auch mal bis 3 Uhr nachts. In meiner Zeit im Bundestag habe ich sogar eine Tagesordnung erlebt, die eine Debatte bis 9:05 Uhr am nächsten Morgen vorsah – 24:05 Stunden.
Ich denke nicht, dass die UN-Antifolterkonvention solche Debatten abdeckt, eine Qual sind sie allemal. Kein Mensch kann über so viele Stunden konzentriert den Redebeiträgen lauschen. Nicht alle Themen sind spannend. Auch die Novellierung der Hufbeschlagverordnung muss beraten werden. Bedenken muss man zudem: Die Abgeordneten kennen die behandelten Themen bereits. Aus Arbeitstreffen, Fraktionssitzungen und Ausschussberatungen. In diesen Werkstätten wurde bereits an allen Beschlüssen ausgiebig gefeilt, der Plenarsaal ist am Ende nur das Schaufenster des Parlaments.
Das heißt: Es gehen nur die wirklich mit dem Thema befassten Abgeordneten zu den Debatten. Alle anderen sind dort wo die eigentliche Arbeit stattfindet. In ihren Büros – wo sie der Debatte im Bundestagsfernsehen folgen können, in Arbeitskreisen und Gremien. Um dies sicherzustellen gibt es in Sitzungswochen eine Anwesenheitspflicht, die man mit Unterschrift bezeugen muss und in der Verstöße finanziell bestraft werden. Fehlt ein Abgeordneter unentschuldigt, werden ihm an Tagen ohne Plenarsitzung 100 Euro, an Tagen mit Plenarsitzung 200 Euro vom Gehalt abgezogen. Entschuldigt er sich schriftlich beim Bundestagspräsidenten, zahlt er in beiden Fällen (!) 100 Euro. Nur wer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beilegt, kann auf mehr Milde hoffen: 20 Euro Strafe pro Tag. Das gleiche gilt für – übrigens vom Bundestagspräsidenten zu genehmigende – Dienstreisen: 20 Euro. Nur bei Schwangerschaft, Mutterschutz und einem kranken Kind, um das sich nachweislich niemand anderes kümmern kann, darf man straffrei fehlen. Familienfreundlich.
Dazu kommen die Strafen für verpasste Namentliche Abstimmungen, von denen es in der Regel in jeder Sitzungswoche mehrere gibt. Jede schlägt mit 100 Euro zu Buche. Die Fraktionen haben zudem noch einen eigenen Strafenkatalog: Hier wird nochmal für verpasste Präsenztage und Abstimmungen kassiert, zudem auch für verpasste Fraktionssitzungen.
Faul sein wird also teuer. Und auch wer meint, es sich finanziell leisten zu können, ist vor Strafe nicht sicher. Die Hauptstadtpresse ist nämlich aufmerksam und registriert jede verpasste Abstimmung. Das mussten unter anderem schon Carl-Eduard von Bismarck - Rücktritt - und Peer Steinbrück – versauter Wahlkampf – merken.
Aber über diese Beispiele darf man nicht vergessen: Die allermeisten Abgeordneten, arbeiten engagiert, fleißig und leidenschaftlich gerne für die Bürger. Oft im Kleinen, leise und unbemerkt. Was mich freut: Zumindest 12.000 Menschen konnte ich dies näher bringen. Sie sind Botschafter für den Ruf unseres Parlaments.
tl;dr: Der Bundestag ist besser als sein Ruf. Konsens ist die Regel, Faulenzer werden bestraft.