Josef Herlitz im Jahr 1953 (Foto: Stadtarchiv Willich). |
Dieser Text ist Teil eines Aufsatzes über das Tagebuch des späteren Neersener Bürgermeisters Josef Herlitz, der im kommenden Heimatbuch des Kreises Viersen veröffentlicht wird.
Unter dem Namen „Aktion T4“ startete im Herbst 1939 eine Mordserie, in deren Verlauf zwischen 80.000 und 100.000 Kranke und Behinderte vom NS-Staat umgebracht wurden. Die Aktion wurde durch eine geheime Führeranweisung, die um den Liquidationsbefehl mit der Fiktion einer kriegsbedingten Notwendigkeit zu umkleiden auf den 1. September 1939 rückdatiert wurde, bewusst erst zu Kriegszeiten in Gang gesetzt. Widerstände, die man besonders von kirchlicher Seite erwartete, sollten - so hoffte man - im Kriegsgeschehen auf eine geringere Resonanz stoßen. Dieser Plan ging nicht auf. Im Gegenteil, die ganze Aktion zog eine solch gewaltige Reaktion nach sich, dass sie von den Nationalsozialisten vorerst wieder aufgegeben werden musste. Die vollständige Aufdeckung des Verbrechens wollten die Täter nicht riskieren.
Den Stein ins Rollen gebracht hatte im Juli 1940 ein leitender Psychiater der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, indem er einen Münsteraner Geistlichen ins Vertrauen gezogen und Enthüllungen über die Euthanasie verschriftlicht hatte. Die Vorgänge wurden über die Weitergabe des Schreibens an den Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, den katholischen deutschen Bischöfen bekannt gemacht.
Die erste Reaktion der Kirche erfolgte über nicht öffentliche Protestnoten. So schrieb Kardinal Faulhaber an den bayrischen Ministerrat: „Bei Fragen, ob die öffentliche Sittlichkeit im Sterilisierungsgesetz für ein katholisches Gewissen gewahrt bleibt, ob sonstwie das katholische Gewissen belastet wird, haben die Bischöfe die Pflicht, für das christliche Sittengesetz einzutreten. Wir haben keine Kritik an den politischen Maßnahmen der Regierung geübt, wir werden uns aber für alle Zukunft das Recht wahren, in Fragen der Religion und Sittlichkeit freimütig, durch unser Amt verpflichtet, für die Wahrheit Zeugnis zu geben…“
Wirklich ernst nahmen die Nationalsozialisten diese Form des Protestes allerdings nicht. Es erfolgte keine Reaktion. Die Gerüchte über die Mordaktion ließen sich jedoch nicht stoppen, so schrieb der spätere Neersener Bürgermeister Josef Herlitz am 14. Dezember 1940 in sein Tagebuch: „Indessen sterben viele Insassen von Irrenhäusern eines schnellen Todes – Schlaganfall. Auf Wunsch stellt man die Urne mit Asche zur Verfügung. In Weeze wurde eine Frau im Wochenbett irrsinnig. Die Angehörigen lieferten sie nach Vorschrift ins Irrenhaus ein. Sie starb später. Die Urne kam als Rest zurück. Die braunen Schwestern bekommen als Entgelt für ihre Tätigkeit ein doppeltes Gehalt zu Weihnachten.“ Auch wenn die Worte Mord oder wenigstens Töten fehlen, die Notiz spricht eine deutliche Sprache. Ebenso zwei weitere Einträge vom Februar 1941: „In unruhigen Zeiten reitet Frau Fama durch das Land: … Angeblich werden die Blöden augenblicklich durch Spritzen in das bessere Jenseits befördert, ihre Leichen verbrannt und den Angehörigen auf Verlangen zugesandt.“ Und: „Auch das Gerücht über die erfolgte Euthanasie seitens amtlicher Stellen erhält sich hartnäckig.“ Zwar formuliert Josef Herlitz auch hier wieder vorsichtig, aber: Alleine das notierte Gerücht lässt die Tat schon offenbar werden. Und genau diese Öffentlichkeit fürchteten die Nationalsozialisten bei ihrem Vorgehen.
Aus diesem Grunde wurde die Aktion T4 zu einer echten Belastung als Bischof von Galen die in der Bevölkerung schwelende Empörung über das Staatsverbrechen zur Entzündung brachte. In seinen drei berühmten Predigten machte der Bischof von Münster nicht nur die Vernichtung „unwerten Lebens“ öffentlich, sondern klagte am 03. August 1941 an, dass im Deutschen Reich von Staats wegen gemordet werde. Die offenen Worte des Bischofs fanden in Deutschland, aber auch darüber hinaus, ein breites Echo und wurden massenweise abgeschrieben und herumgereicht. Josef Herlitz schreibt dazu: „Als mutiger Verteidiger der Kirche erwies sich der Bischof von Münster, von Galen, der in deutlichen, besorgten Worten auf die Tätigkeit der Kreise hinwies, die schon im Hirtenwort der Bischöfe gekennzeichnet waren. Seine Worte gingen von Mund zu Mund bei Katholiken, Protestanten, Ungläubigen, Reichen und Armen. Und als er erst in Kevelaer firmte, kannte der Zustrom zu dieser hl. Stätte am Niederrhein keine Grenze.“
Im August 1941 lies Hitler die Euthanasie-Aktionen offiziell einstellen. In den Konzentrationslagern wurden die Morde an Kranken jedoch, wenn auch in geringerem Maße, weitergeführt. Es starben nochmals etwa 30.000 Menschen. Neben der Angst, dass die Stimmung in der Bevölkerung umschlagen könnte, dürfte dabei auch der Krieg gegen die Sowjetunion und die damit anlaufende Judenvernichtung eine Rolle gespielt haben. Hitler konnte sich zunächst seinem Hauptaugenmerk widmen. Im Gegensatz zur Aktion T4 wurde um diese ungleich größere Mordaktion von Anfang an ein dichter Schleier gezogen und Geheimhaltung zum obersten Gebot erklärt. Die Vorgänge rund um die Ermordung „unwerten Lebens“ sollten sich nicht wiederholen.
Josef Herlitz bringt das Ende der Morde in seinem Tagebuch mit dem Krieg in Verbindung: „Andere sagen, die Flieger hätten sich gegen die behauptete Form der Euthanasie gewandt, da sie ja auch in Gefahr seien, geistig zerstört zu werden.“ Auch hier ist die Quelle wieder ein Gerücht.
Die Reaktionen der nationalsozialistischen Führung lassen hingegen auf Bischof von Galens Predigten als den entscheidenden Grund schließen: Während Himmler von Galens Verhaftung forderte, schlug Martin Bormann vor, die „…einzige Maßnahme [zu] ergreifen die sowohl propagandistisch wie strafrechtlich angemessen ist, nämlich den Bischof von Münster zu erhängen“. Dass keine Reaktion erfolgte, lässt die Angst erahnen, der Josef Goebbels das Wort geredet hat: Bei einer Bestrafung von Galens müsse man damit rechnen, dass man ganz Westfalen für die Dauer des Krieges abschreiben müsse. Erst nach dem Krieg sollte dann „…auf Heller und Pfennig abgerechnet“ werden.
Der öffentliche Prostest eines Bischofs rettete so unzählige Leben. Man muss sich fragen, was katholische und protestantische Kirchenführer mit mehr Zivilcourage und weniger Bedenkenpflege selbst in einer totalitären Diktatur hätten verhindern können.
tl;dr: Vor 75 Jahren begann in Deutschland die sogenannte "Vernichtung lebensunwerten Lebens" durch die Nationalsozialisten.